grandchild, GBinquisitor, danke für eure Impulse. Mich haben sie nochmal zum Texten gebracht. Das sollte es dann aber auch gewesen sein, denke ich.
1. Logik des "Tipping Points"
Was die Fusion und der Burning Man (scheinbar) gemeinsam haben, ist die Herausforderung, sich auf eine Veränderung des Marktgefüges einzustellen, nämlich von faktisch unbeschränkter zu beschränkter Kapazität. Das hatte ich eine Konsequenz der "Bedingungen der digitalen Massengesellschaft" genannt.
Wachstum ist immer exponentiell, und das Internet wirkt meistens als Katalysator, erhöht also die Wachstumsrate. Das kann wie vorliegend dazu führen, dass der "Tipping Point" so schnell auf einen zurauscht, dass man ihn als plötzliches Ereignis erlebt, obgleich es sich nach wie vor um eine ableit- und rechenbare Grösse handelt.
Konkret: Der Zeitunkt, an dem die Tickets ausverkauft sind, ergibt sich auch weiterhin wie folgt:
a) Nachfrage = Kapazität + x
-> x = Nachfrage - Kapazität.
b) Zeitraum bis zum Ausverkauf = t / (a * x)
-> Wobei für t eine beliebige Einheit einzusetzen ist, z.B. 1 Monat, und a als konstanter Faktor, der sich aus der Realität ermittelt und deshalb für die reine Modellaufstellung vernachlässigt werden kann.
Den Zusammenhang verkennt man leicht, solange x negativ ist, der Tipping Point also nicht erreicht ist. Nur gibt keine Anzeichen dafür, dass x in irgendeinem Jahr überproportional gewachsen sein könnte, das wird jedoch offenbar einfach unterstellt. Auf der Hand liegt dagegen, dass die öffentliche Kenntnis von einem positiven x sich potenzierend auf a auswirkt. Da jetzt alle wissen, dass x inzwischen positiv ist, und verständlicherweise die Beine in die Hand nehmen, ändert sich die ganze Marktsituation: Bestand die Nachfrage vorher nur aus tatsächlichem Bedarf, erzeut Torschlusspanik nun eine zusätzliche Scheinnachfrage. Es herrscht "Hamsterstimmung".
Deshalb ist es nach meiner Ansicht gerechtfertigt, von einer kritischen Masse zu sprechen, einem "Tipping Point", und nicht nur von einer vergleichsweise folgenlosen "Angebot-Nachfrage-Parität". Sie resultiert in der auf den ersten Blick verstörenden Beschleunigung der Abverkaufsgeschwindigkeit von Wochen (2010) auf Stunden (2011). Zweifeln muss man daran, weil 2010 das erste ausverkaufte Jahr war - es war freilich auch das erste Jahr mit offiziell begrenzter Kapazität. Es liegt auf der Hand, dass da ein Zusammenhang besteht.
Die Realität bringt dann auch prompt die Belege: Es gibt keine real explodierte Nachfrage, sonst gäbe es keine Ticketrückgabequote, schon gar nicht NACH Sekundärmarkt. Aus demselben Grund gibt es auch keine Spekulation, sonst würde der Ticketüberhang ja nicht zurückgegeben, sondern am Sekundärmarkt angeboten. Der Sekundärmarkt ist aber gar nicht gross genug, um den Angebotsüberhang aufzunehmen - ein sicherer Beweis gegen Spekulation.
Fazit:
- Das Lossystem beruht auf der Prämisse, dass ein spekulationsgetriebener Nachfrageüberhang vorliegt. In Wahrheit ist es nur eine künstliche Preisblase.
- Es ist reichlich albern, künstlich das Angebot zu verknappen, indem man Tickets zurückkauft, um sich dann einen Fight mit einer Handvoll eBay-Verkäufern zu liefern.
- Öffentliche Verlautbarungen sind bezüglich ihrer Wirkungen auf die Nachfragekomponenten (natürlicher Bedarf, künstliche Blasennachfrage, spekulative Nachfrage) zu optimieren.
- Da Personalisierung mit der Eliminierung des Sekundärmarkts (C2C, wenn man so will) gleichzusetzen ist, werden wir heuer ein noch viel grösseres Missverhältnis zwischen zugelosten und tatsächlich angenommenen Tickets sehen.
- Es wird im anderen Thread darüber spekuliert, WARUM ausgerechnet der (objektiv allenfalls marginale) Einflussfaktor "Internetzugang" betont wurde. Davon fühlen sich die Leute verarscht, weil sie spüren, dass das nicht hinkommen kann. In Wahrheit besteht aber nur ein Erklärungsnotstand, weil die Zusammenhänge nicht korrekt erkannt und in der Folge die wahre Situation mit der falschen Lösung adressiert wurde.
- Als logische Konsequenz eines *tatsächlichen* Erreichen des Tipping Points müsste der (zu) späte Verkaufsstart in Frage gestellt werden, andernfalls droht die Preisblase unausweichlich.
2. Logik des Systems "Burning Man"
Das BM-System hat mit linker Theorie wenig gemein. Danke, grandchild, dass Du mich darauf aufmerksam machst, denn das ist ja hochspannend!
Kurzfassung:
Ich glaube, es handelt sich um eine Weiterentwicklung des klassischen Yield Managements mit dem Ziel, das aus der Wahl des Preissteigerungskoeffizienten resultierende Veranstalterrisiko zu senken.
Nennen wir es beim Namen: Blanker asozialer Turbokapitalismus. Als Teilnehmer erkauft man sich mit höherer Zahlungsbereitschaft eine "Tier" mit (scheinbar, dazu gleich) höheren Chancen. Weder ökonomisch noch sozial besteht noch ein Unterschied z.B. zu einer Fluggesellschaft, die ihre Kapazität in First-, Business-, und Economy-Class aufteilt, um sie dann mit zeitlich gestaffelten Preisen im Yield Management zu vertreiben (optimierte Variable = Gesamtumsatz).
Im Detail:
Wie gezeigt existiert kein monokausaler Zusammenhang zwischen der Bereitschaft, sich eine Option zulosen zu lassen, und derjenigen, ein Ticket auch tatsächlich zu bezahlen. ("Kostet ja nichts, kann ich ja mal mitmachen..."). Sehr wohl erhöht der Gewinn eines Loses aber die individuelle Zahlungsbereitschaft ("Jetzt hab ich schon gewonnen, und soviele andere nicht, da muss ich das Ticket ja nehmen.")
Vor diesem Hintergrund ergeben sich die nachfolgenden Zwecksetzungen für eine Verlosung in Tiers:
a) Die PR-Wirkung der oben beschriebenen Preisblase wird maximal "geleveraged", wie man das nennt. D.h. im ersten Schritt werden zunächst von sovielen Menschen wie möglich Adressdaten, Zahlungsbereitschaft und zu allem Überfluss auch gleich noch die Kreditkartennummer erhoben.
b) Schon weit vor der eigentlichen Allokation (Verlosung) lässt sich ersehen, ob man die Bude vollbekommt = Planungssicherheit. Gerade dieser Punkt macht die Sache aber so fadenscheinig: Der Burning Man findet in der Wüste statt, ohne zentrale Infrastruktur. Wo ist die Kapazitätsproblematik?
c) Und nun wird es richtig diabolisch. Ich will das ja keinem unterstellen, aber die Möglichkeit besteht (und es NICHT so zu machen, erzeugt Folgeprobleme):
Angenommen also, es gibt fünf Tiers - wie gross sollten die denn sein? Nach arithmetischer Logik, und unterstellt, dass die Zahlungsbereitschaft mit dem Preis sinkt: 1/15 der Gesamtkapazität = teuerste Tier, 2/15 = nächstgünstigere, und weiter mit 3/15, 4/15 und 5/15.
Aber so ist die Realität nicht. Tausendfach beobachtet, und in jeder halbwegs elaborierten Preisgestaltung auch ausgenutzt: Menschen tendieren zur Mitte. In einer gleichförmigen Preisstaffelung ist die Zahlungsbereitschaft der Kaufinteressenten normalverteilt. Der Graph hat also gerade keine monotone Steigung, sondern Glockenform. Nicht 3/15 der Besucher werden die mittlere Kategorie nehmen, sondern erheblich mehr, dafür an den Rändern deutlich weniger.
Die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft steigt durch das System - wie kann ich sie abschöpfen? Oder, organisatorisch gedacht: Ich müsste die billigen und teuren Tiers kleiner machen, die mittleren um ein Vielfaches grösser - aber in welchem Verhältnis genau?
Will ich mir nun eine zweite Verlosung ersparen, um die Resttickets aus den Rand-Tiers bei den Verliereren der überfüllten mittleren Tiers unterzubringen, dann bleibt nur eine logische Konsequenz: Ich gebe zunächst ALLEN aus der teuersten Tier ein Ticket zu ihrem Preis. Die höchste Zahlungsbereitschaft resultiert also in einer ZuteilungsGARANTIE (jedenfalls solange diese Gruppe kleiner ist als die Gesamtkapazität).
Dann fülle ich die Restkapazität nach unten weiter auf. Ob ich zwischen billigster und zweitbilligster Tier noch ein wenig umverteile oder rumlose, damit es nicht auffällt, kann ja dann meine PR entscheiden. Das Primärziel, die Gewinnoptimierung, ist jedenfalls erreicht, und dies auch noch OHNE das klassische Risiko des Yield Managements, was darin besteht, dass ich den Preissteigerungskoeffizienten niemals präzise ansetze, sondern entweder zu hoch (ich kriege nicht alles los) oder zu niedrig (ich nehme weniger ein, als möglich wäre).
Man kann das ja auch noch als "irgendwie fair" darstellen - es hat ja dann jeder sein Ticket zum gewünschtne Preis bekommen... Etwas pointiert (ja, geklaut): Es gibt keine ehrlichen und intelligenten Menschen, die das Fusion-Losverfahren mit Verweis auf den Burning Man loben. Denn entweder sie haben das BM-System nicht verstanden, dann sind sie nicht intelligent. Oder sie haben es verstanden, und loben es trotzdem, dann sind sie nicht ehrlich. Oder sie sind ehrlich und intelligent, dann sondern sie nicht so einen Bullshit ab.
Fazit
Das Fusion-System ist in diesem Sinne erheblich gleicher, folglich nicht direkt asozial. Problem bleibt, dass es nicht effizient ist, sondern gewollt ineffizient (arg. teure Zerstörung anstatt günstige Hebelung und Steuerung des Sekundärmarkts). Es ist auch, wie gezeigt, nicht gerecht im Sinne der Ergebnisgerechtigkeit, weil es so viele unnötige Streuschäden verursacht.
3. Logik der Sekundärmarktkontrolle
Nun zum "Placebo": Ein Placebo ist etwas, was per se keine Wirkung hat, trotzdem eine Wirkung erzeugt aufgrund des reinen Glaubens an dieselbe. Dafür ist in der Tat unverzichtbar, dass der Glaube nicht durch Erkenntnis zerstört wird.
Die vorgeschlagene Drohung, den Schwarzmarktpreis zu hintertreiben, unterscheidet sich dadurch, dass die Absicht, auf die Ausführung zu verzichten, offen bekanntgegeben werden kann. Die Drohung muss nur *glaubwürdig* bleiben. Glaubwürdig ist sie dann, wenn - anders als beim Placebo - eben doch die reale Möglichkeit einer Wirkung besteht. Und die sehe ich absolut gegeben. Denn auf die Auktion eines Gutes, welches nebenan zum günstigeren Festpreis zu haben ist, bietet keiner mehr.
Der Witz von den "Kontertickets" (tolles Wort!) ist ihre Hebelwirkung. Wieder ins grosse Beispiel: Natürlich hat die SNB bei Weitem nicht das Geld (= kann gar nicht genug Schulden machen bzw. ungestraft Geld drucken), um den ganzen Euro zu subventionieren: Die Schweiz erzeugt mit 8 Mio. Einwohnern ein BIP von etwa 424 Mia. USD, Euroland mit 500 Mio. Einwohnern ein BIP von 15200 Mia. USD. Das ist ein Verhältnis von mehr als 1:35.
Harakiri? David gegen Goliath? Ne, umgekehrt. Denn das eine ist eine Notenbank mit überlegenem Wissen, das andere sind nur einfache Marktteilnehmer. Es geht darum, dass keiner mehr spekuliert, weil keiner derjenige sein will, der damit auf die Nase fällt. Obwohl das Gesamtunterfangen eigentlich unmöglich ist, was ein paar grosse Hedgefonds bei koordiniertem Vorgehen sicherlich auch demonstrieren könnten, erhöht die Massnahme trotzdem das individuelle Spekulationsrisiko so weit, dass für den einzelnen Marktteilnehmer die Spekulation auf den CHF nicht mehr attraktiv ist, sondern dumm.
Wenn ich sicher wüsste, dass die SNB morgen mittag die Segel streicht, dann würde ich heute noch ein paar Tausend Einheiten einer beliebigen Währung zusammenkratzen, in irgendwelche assigen Turbo-Knockout-Zertifikate stecken - und morgen wäre ich Millionär. Tue ich das hingegen ohne dieses Wissen, habe ich meinen Einsatz sehr sicher versenkt, denn ohne überlegenes Wissen sind diese Zertifikate eben nichts als assig.
Genauso könnte das hier auch laufen: Wenn z.B. trotz Beschränkung auf 2 pro Besteller 10 % der Tickets zur reinen Spekulation gekauft würden (absurde Annahme), also tatsächlich 10 % = 5.500 Tickets, dann braucht man eben NICHT einen gleich grossen Bestand zurückzuhalten, um das zu kontern! Das ist nicht mein Fach, aber sicher findet man ohne Mühe einen spieltheoretisch versierten Ökonomen, der einen Richtwert peilen kann. Ich würde vermuten, dass man, selbst wenn es hart kommt, allenfalls 100 oder 200 Stück benötigt.
Mal abgesehen davon - wilde Juristenidee - würde ich auf die Tickets draufschreiben:
"Das Design dieses Tickets ist urheberrechtlich geschützt und wird dem Inhaber nur zur eigenen Nutzung sowie zur Weitergabe zum Originalpreis lizenziert. eBay-Sofortverkauf zum Originalpreis wird toleriert, eine Weitergabe mit Preiszuschlag wird als Urheberrechtsverletzung zur Strafanzeige gebracht."
Ergebnis: Man braucht überhaupt gar keine Tickets zurückhalten, weil der Sekundärmarkt das Preisniveau von ganz alleine deckelt, selbst wenn die Nachfrage wirklich explodieren sollte. Es müssen ja auch nie soviele Tickets zum Festpreis im Angebot sein wie als Auktion. Es genügt vollkommen, dass es immer nur eines gibt, dann gehen die offenen Auktionen unter Normalpreis über den Tisch.
Fazit
Dass eBay boykottiert werden soll, habe ich vernommen. Man kann diesen Standpunkt ja beziehen, nur welche Begründung bleibt dafür noch?
Ich komme wieder zu dem Schluss, dass die Entscheidung, sich aus dem Sekundärmarkt herauszuhalten (= sich dort repressiv zu betätigen, das behauptete Engagement fällt samt und sonders in die Kategorie "erfolgreiches Scheitern") viel wahrscheinlicher die zentrale Ursache der Problematik darstellt, anstatt nur eine nebensächliche Folgerung. Denn in eine private eBay-Polizeitruppe anstatt die paar hundert Schleifen eBay-Gebühren zu investieren, das erscheint mir wirklich nicht als Frage von Prinzipien. Jedenfalls nicht, solange man kommerzielle Lieferanten bezahlt, um die Party überhaupt zu ermöglichen.
Oder steht etwa jemand auf und behauptet, dass der Fäkalientransport durch einen e.V. geleistet wird?
